Dienstag, 28. Juli 2009

Eine Welt ohne Mitleid
(Frankreich, 1989, 84mn)
ARTE F
Regie: Eric Rochant
Kamera: Pierre Novion
Musik: Gérard Torikian
Schnitt: Michèle Darmon
Darsteller: Aline Still (Mutter), Anne Kessler (Adeline), Cécile Mazan (Francine), Hippolyte Girardot (Hippo), Jean-Marie Rollin (Xavier), Mireille Perrier (Nathalie), Paul Pavel (Vater), Yvan Attal (Halpern)
Autor: Eric Rochant
Produktion: Christian Bourgeois Productions, Gérard Mital Productions, Les Productions Lazennec, SGGC Jean-Bernard Fetoux
Produzent: Adeline Lecallier, Alain Rocca
16:9 (Breitbildformat) Zweikanalton Nativ HD

Hippo ist fast 30 und noch immer ein Gammler und Aufreißer, der ziellos die Pariser Straßen durchstreift. Nach dem Versagen der großen Ideologien empfindet er die Welt der 80er Jahre als gleichgültig und mitleidlos. Hippo hat sich seine eigene kleine Welt geschaffen, die aus seinem Kumpel Halpern und seinem jüngeren Bruder Xavier besteht. Von diesem, einem kleinen Drogendealer, lässt sich Hippo zudem aushalten. Als er jedoch auf Nathalie, eine talentierte Studentin und Dolmetscherin, trifft, verliebt er sich. Doch Nathalie bekommt bald ein Stipendium für die USA - und Hippo muss zum ersten Mal eine Entscheidung treffen ...

Nach einem abgebrochenen Studium lebt Hippo in den Tag hinein. Er durchläuft die Straßen des Quartier Latin, reißt Mädchen auf und beschäftigt sich mit Nichtstun: Hippo liest nicht, er geht weder ins Kino noch in Bars - kurzum, er versucht jeden tiefer gehenden Kontakt mit der kalten, indifferenten "Welt ohne Mitleid" zu vermeiden, in der jeder naive Glaube an die großen Ideologien und Jugendbewegungen gescheitert ist. Hippos Indifferenz und Bindungsängste sind ein Spiegel dieses Weltempfindens. Seine kleine Welt, die er der großen, erbarmungslosen Gesellschaft entgegensetzt, dreht sich um den Kumpel Halpern und den kleinen Bruder Xavier, der als Schüler mit Drogen dealt und den untätigen Hippo mit Geld versorgt.
Hippo verschanzt sich emotional in seinem kleinen Kokon, bis jene Realität, die er sich lange erfolgreich vom Leibe gehalten hat, ihm in Gestalt der reizenden Nathalie entgegentritt. Die fleißige Aschkenasin ist eine erfolgreiche Studentin und Dolmetscherin und anders als Hippo ein zielstrebiger Mensch der Tat. Hippo verliebt sich Hals über Kopf in Nathalie, die ihn anfänglich wie einen Schmarotzer behandelt. Bald erliegt sie seinem Charme und das Glück scheint perfekt.
Als Nathalie jedoch ein Stipendium für ein Studium in den USA bekommt und Hippo bittet mitzugehen, kommen die alten Bindungsängste wieder hoch. Hippo zögert und zaudert, während sich der Tag der Abreise nähert und die Polizei den Machenschaften Xaviers auf die Schliche kommt ...

In "Eine Welt ohne Mitleid", seinem ersten Spielfilm, zeigt Eric Rochant mit der Figur des Hippo seine Vorstellung der Jugend von heute: "Die Idee zu Hippo entstand aus einem Mangel", so erklärt Rochant die Geburt seines (Anti-)Helden. "In keinem Film der 80er Jahre konnte ich mich wiedererkennen, auch nicht in Filmen, die von Jugendproblemen sprechen sollten." In der Tat scheint Hippo den Zeitgeist auf eine selten ehrliche Weise einzufangen: Nach leeren Verheißungen von Utopien hat die moderne Jugend das Vertrauen an schöne Worte und Ideologien verloren, sie mag zwar noch von den Sternen träumen, doch daran glauben ist nicht mehr möglich: "Man kann nicht einfach Tabula rasa mit der Vergangenheit machen. Die jungen Leute sind die Erben einer bestimmten historischen Situation: Insbesondere dem Versagen aller Ideologien", sagt Rochant. Was bleibt ist eine kühle, sinnentleerte Welt - oder wie Hippo es formuliert, "der große europäische Markt". Hippo verkörpert das neue Gesicht einer Jugend, die derart desillusioniert ist, dass sie nicht einmal mehr rebellieren mag.
Einzig die Liebe als Weg zum anderen vermag die Kluft zwischen solch einsamen Menschen zu überbrücken. Die Liebe, das ist Nathalie, aber zunächst muss sie Hippos Panzer aus cooler Gleichgültigkeit durchbrechen.
"Eine Welt ohne Mitleid" ist der Geniestreich einer fruchtbaren Zusammenarbeit von Regisseur und Hauptdarsteller. Als Rochant 1983 auf Hippolyte Girardot traf, wusste er, dass er seinen Hippo endlich gefunden hatte. Girardot, der bereits in den ersten beiden Kurzfilmen Rochants "Comme les doigts de la main" (1984) und "French Lovers" (1985) mitgespielt hatte, verdankt der Rolle des ironischen Faulenzers Hippo seinen Durchbruch. Bei der Mostra in Venedig wurde der Film mit dem renommierten FIPRESCI-Kritikerpreis ausgezeichnet.

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