Sonntag, 24. Januar 2010

Der fiktive Dritte in der Kommunikation zweier Individuen

"Der eingebildete Dritte
Eine Argumentationsfigur im Zivilrecht

Elena Barnert behandelt den richterlichen Rekurs auf einen objektiven, verständigen oder sorgfältigen Menschen. Dieser fiktive Maßstabsträger, den der Zivilrichter etwa zur Beantwortung von Fahrlässigkeits- oder Auslegungsfragen entwirft und seiner Urteilsbegründung zugrundelegt, wird als "Dritter" bezeichnet, weil er als 'idealer' Rechtsakteur zu den Prozeßparteien hinzutritt. Er ist also ein Konstrukt, ein Produkt planmäßiger Phantasie. Die Autorin untersucht den "eingebildeten Dritten" zunächst in abstracto, u.a. unter rechtsmethodologischem, ideengeschichtlichem und sprachwissenschaftlichem Aspekt. Anschließend geht es - unter den Rubriken Handlung, Verständnis, Wille und Gefühl - darum, wann und wie der Zivilrichter mit Blick auf die besondere Materie des Rechtsfalles den spezifischen modellhaften Dritten formt und in concreto strategisch-rechtspraktisch einsetzt. Ein wesentlicher Gesichtspunkt bei der Konzeption des jeweils maßgebenden Dritten ist Sinn und Zweck der streitrelevanten Normen: Der Dritte im Wettbewerbs- oder Kapitalmarktrecht beispielsweise ist klüger und informierter als der Dritte in originär verbraucherschutzrechtlichem Kontext, weil hier nur der Abgleich mit einer eher schlichten, dort nur die Anlehnung an eine eher kenntnisreiche Modellfigur zur Verwirklichung der (letztlich richterlich definierten) ratio legis verhelfen kann. Als typisierender Gradmesser ist der Dritte strukturell stets der gleiche; als dynamisches Kriterium mit fallentscheidender Kraft aber ist er eine Schablone für Zuschreibungen unterschiedlichster Art - je nach Kontext, normativem Umfeld und avisiertem Resultat der Urteilsfindung."

Mittwoch, 20. Januar 2010

Jesus vs Nietzsche

"Nietzsche versucht hier, eine psychologische Deutung der Person und der Lehren Jesu zu geben. Er widerspricht energisch den Thesen Ernest Renans, der (in seinem Hauptwerk La Vie de Jésus, 1863) aus Jesus einen „Helden“ und ein „Genie“ gemacht habe. Ganz im Gegenteil sei Jesus ein Idiot. Dieses Wort ist sicherlich mehrdeutig: Bei aller Polemik ist zunächst die ursprüngliche griechische Bedeutung (siehe Idiot) eines einzelgängerischen oder unpolitischen Menschen, dann aber auch die Anspielung auf Dostojewskis Der Idiot zu sehen.[3] Aufgrund einer extremen Leid- und Reizfähigkeit sei Jesus überhaupt nur zu einer allumfassenden Liebe fähig gewesen, alles andere habe ihm Schmerz verursacht. Die Realität nehme er gar nicht zur Kenntnis, er könne nur in Symbolen seine inneren Zustände ausdrücken. Die Lehre und Praktik Jesu sieht Nietzsche verwandt mit denjenigen Epikurs – allerdings mit weniger Vitalität – und Buddhas – allerdings „auf einem sehr wenig indischen Boden“. Das einzige für Jesus wichtige sei die evangelische Praktik gewesen, ein Leben nach einem inneren Gefühl, ohne Widerstände. Das „Reich Gottes“ habe bei Jesus nicht die Bedeutung von etwas Zukünftigem, wie es die Kirche auslegte, sondern sei ein durch entsprechendes Handeln jederzeit erreichbarer Seelenzustand allumfassender Liebe und inneren Friedens. An Kultur, Politik, Wissenschaft habe der christliche „Typus“ kein Interesse, er verstehe überhaupt nicht, wie man anders als er urteilen könne; für gegenteilige Lehren könne er nur trauerndes Mitgefühl empfinden.

„Das Leben des Erlösers war nichts andres als diese Praktik – sein Tod war auch nichts andres […] er weiss, wie es allein die Praktik des Lebens ist, mit der man sich ‚göttlich‘, ‚selig‘, ‚evangelisch‘, jeder Zeit ein ‚Kind Gottes‘ fühlt. Nicht ‚Busse‘, nicht ‚Gebet um Vergebung‘ sind Wege zu Gott: die evangelische Praktik allein führt zu Gott, sie eben ist ‚Gott‘ – Was mit dem Evangelium abgethan war, das war das Judenthum der Begriffe ‚Sünde‘, ‚Vergebung der Sünde‘, ‚Glaube‘, ‚Erlösung durch den Glauben‘“

– Kapitel 33: KSA 6, S. 205 f."

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