"Nietzsche versucht hier, eine psychologische Deutung der Person und der Lehren Jesu zu geben. Er widerspricht energisch den Thesen Ernest Renans, der (in seinem Hauptwerk La Vie de Jésus, 1863) aus Jesus einen „Helden“ und ein „Genie“ gemacht habe. Ganz im Gegenteil sei Jesus ein Idiot. Dieses Wort ist sicherlich mehrdeutig: Bei aller Polemik ist zunächst die ursprüngliche griechische Bedeutung (siehe Idiot) eines
einzelgängerischen oder unpolitischen Menschen, dann aber auch die Anspielung auf Dostojewskis Der Idiot zu sehen.[3] Aufgrund einer extremen Leid- und Reizfähigkeit sei Jesus
überhaupt nur zu einer allumfassenden Liebe fähig gewesen, alles andere habe ihm Schmerz verursacht. Die Realität nehme er gar nicht zur Kenntnis, er könne nur in Symbolen seine inneren Zustände ausdrücken. Die Lehre und Praktik Jesu sieht Nietzsche verwandt mit denjenigen Epikurs – allerdings mit weniger Vitalität – und Buddhas – allerdings „auf einem sehr wenig indischen Boden“. Das einzige für Jesus wichtige sei die evangelische Praktik gewesen, ein Leben nach einem inneren Gefühl, ohne Widerstände. Das „Reich Gottes“ habe bei Jesus nicht die Bedeutung von etwas Zukünftigem, wie es die Kirche auslegte, sondern sei ein durch entsprechendes Handeln jederzeit erreichbarer Seelenzustand allumfassender Liebe und inneren Friedens. An Kultur, Politik, Wissenschaft habe der christliche „Typus“ kein Interesse, er verstehe überhaupt nicht, wie man anders als er urteilen könne; für gegenteilige Lehren könne er nur trauerndes Mitgefühl empfinden.
„Das Leben des Erlösers war nichts andres als diese Praktik – sein Tod war auch nichts andres […] er weiss, wie es allein die Praktik des Lebens ist, mit der man sich ‚göttlich‘, ‚selig‘, ‚evangelisch‘, jeder Zeit ein ‚Kind Gottes‘ fühlt. Nicht ‚Busse‘, nicht ‚Gebet um Vergebung‘ sind Wege zu Gott: die evangelische Praktik allein führt zu Gott, sie eben ist ‚Gott‘ – Was mit dem Evangelium abgethan war, das war das Judenthum der Begriffe ‚Sünde‘, ‚Vergebung der Sünde‘, ‚Glaube‘, ‚Erlösung durch den Glauben‘“
– Kapitel 33: KSA 6, S. 205 f."
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